1. CP-Kongress Freiburg 18.6.-20.6.2009
Vortrag Dr. Limbrock: Störungen der Mundmotorik- als pdf-Datei
Publikation 2011 im
Journal für NEUROLOGIE, NEUROCHIRURGIE und PSYCHIATRIE, s.u. Literatur
2. Mundmotorische Störungen behinderter Kinder und Therapien
(ein Teil dieser Tabellen ist veröffentlicht in
Limbrock, GJ, Bender M-P (2004) Mundmotorische Probleme und Sprechstörungen behinderter Kinder. Praktische Pädiatrie und
Limbrock, GJ, Hoyer H (1988) Sensomotorische Funktionstherapie bei orofazialen Fehlfunktionen nach Castillo-Morales. Zahnärztl. Praxis 7, 246-254)
Bei folgenden Krankheitsbildern kommt es häufig zu mundmotorischen Problemen:
2. Zentral bewegungsgestörte Kinder, z.B. mit Zerebralparese
Zur Darstellung der orofazialen Störungen, die zur Funktionsdiagnostik wichtig sind (vgl. 2.2., 2.3.) werden hier die Subtypen der Zerebralparesen vereinfacht in 3 Gruppen zusammengefasst: Hypotonie, Hypertonie/Spastik, Athetose/Dystonie.
Ataxien sind aus Platzgründen nicht aufgeführt, auf sie treffen die Störungen der Hypotonie überwiegend zu. Hinter dem Etikett „hypotone Bewegungsstörung“ verbergen sich oft noch unerkannte Neuromuskuläre Störungen, genetische oder Stoffwechsel- Erkrankungen.
Tab. 3: Orofaziale Störungen, I. Symptome bei Hypotonie |
Haltung: |
Kopfreklination und –vorverlagerung als Folge von Instabilität mit Rundrücken und hypotoner Nackenmuskulatur, protrahierten Schultern und eingesunkenem Thorax. Puncta fixa verschoben. Atmung flach, geringe inspiratorische Thoraxerweiterung, verstärkter Zug des Zwerchfells: Harrison´sche Furchen. |
Mimik: |
Reduziert, hängend, „traurig“. Schmale Lidspalte und Ptosis. Manchmal leichte Synkinesien beim Essen und Sprechen als Ausdruck kompensierender Anspannung. Asymmetrien. Evtl. persistierende Beißreaktion. Eher reduzierte Würgreaktion. |
Lippen: |
Geöffnet mit hochgezogener, manchmal kurzer Oberlippe: schwache labiale und angespannte marginale Fasern. Unterlippe hypoton, evertiert und später verdickt. Herabgezogene Mundwinkel mit Rhagaden. Mundatmung. Mangelhafter Buccinatormechanismus, kaum intraoraler Druck. Evtl. Asymmetrien (wie beim Moebius-Syndrom). Empfindlichkeit im Mundbereich häufiger vermindert als gesteigert. Speichelfluß, evtl. einseitig. |
Zunge: |
Flach und breit auf dem Mundboden, vorverlagert und oft auch mit langsamem Zungenpressen nach vorn, eher nach unten als nach oben; in Ruhe, beim Trinken, Essen und Sprechen; evtl. mit "Lutsch-Knansch-Geräuschen“ (9,10) beim Nachschlucken. Asymmetrien, Atrophien mit Furchungen, Fibrillationen, Faszikulationen. Mangelnde Seit- und Rotationsbewegungen. Hinterzunge flach. |
Kiefer undZähne: |
Offener Biß, mäßige obere Protrusion bei mangelndem Oberlippendruck. Kleiner Oberkiefer mit spitzgiebelförmigem oder gotischem Gaumen, darin Speisereste. Untere Protrusion bis zur Progenie. Karies und Parodontitis mangels Speichelumspülung (besonders oben), Mundhygiene und wegen Mundatmung. Zahnfleischhypertrophie. |
Gaumensegel: |
Inkomplett oder komplett paretisch, evtl. einseitig. Hypernasalität, Luftverlust beim Pusten. |
Artikulation: |
Verwaschen, monoton, leise. Lenisierte Konsonanten. Bei Ataxie skandiert und abgehackt ( 6). |
Tab. 4: Orofaziale Störungen, II. Symptome bei Spastik /Hypertonie |
Haltung: |
Kopfreklination als Folge von schwacher Rumpfaufrichtung mit hypertoner Nackenmuskulatur und Mangel der ventralen Halsmuskulatur, oder starke Kopfbeugung. Schultern retrahiert oder protrahiert. Puncta fixa verschoben und variationsarm. Atmung flach, hoch, paradox. |
Mimik: |
Reduziert, ausdrucksarm; regional auch überaktiv: marginale Fasern, Kinnmuskel, Mundboden usw. Mitbewegungen und assoziiertes weites Mundöffnen bei Körperaktivität, Sprechversuchen, Emotionen. Meist hypotone Wangen (trägt bei zum Schmalkiefer). Asymmetrien. Evtl. persistierende Beißreaktionen, gesteigerte Würgreaktion. |
Lippen: |
Meist geöffnet bei hochgezogener und inaktiver Oberlippe mit angespannten marginalen Fasern (m.depressor septi): Druck auf die Zahnwurzeln, gleichzeitig mangelnder Druck der distalen Oberlippe sowie Zungenstoß führen zur Schneidezahnprotrusion. Oft Mundatmung. Oft eingezogene Unterlippe mit Anspannung des Kinnmuskels („Blumenkohl-Kinn“): drückt untere Schneidezähne nach hinten. Asymmetrien, Mitbewegungen. Empfindlichkeit im Mundbereich häufiger gesteigert als reduziert. Mangelhafter Buccinatormechanismus, kaum intraoraler Druck. Speichelfluß durch geringe Effektivität und Frequenz des Schluckaktes (16). Oft zäher Speichel. |
Zunge: |
Klobig oder „zigarrenförmig“ (9) auf dem Mundboden oder gebuckelt. Zungenstoß oft mit hochgewölbter hypertoner Mittellinie, drückt in den offenen Biß, wie um ihn zu verschließen. Zungenstoß meist nach vorn-oben, in Ruhe, beim Essen, Trinken, Sprechen, und mit "Lutsch-Knansch-Geräuschen“ (9,10) besonders beim Nachschlucken. Dadurch seitliches Abdrücken der Nahrung statt Transportbewegung. Zungenstoß langsam wie eine Einzelwelle, oder athetoid mit Oberflächenwellen (persistierende primäre Zungenbewegungen, 3), oder rhythmisch und rasch. Mangelnde Seit- und Rotationsbewegungen der Zunge (Kauen). Fibrillationen, Asymmetrien und Atrophien. |
Kiefer und Zähne: |
Schmalkiefer. Lückige Protrusion der oberen Schneidezähne, auch des Oberkiefers, mit relativ hohem und schmalem Gaumen, darin Speisereste. Gingivahyperplasie durch Mangel an Kaudruck und „Selbstreinigungskräften des Mundes”. Retrusion der unteren Schneidezähne, wenn zur kompensatorischen Stabilisation des Unterkiefers die Muskelschlinge von mentalis und risorius angespannt wird. Offener Biß, lückige Protrusion und Distalbiß bei ca. 50% der Zerebralparesen und achtmal so häufig wie bei Gesunden (19). Verstärktes Wachstum der hinteren Molaren, Einwärtskippung, stört Seitbewegungen und fördert frontal offenen Biß. Karies und Parodontitis mangels Speichelumspülung, Mundhygiene und wegen Mundatmung. Knirschen. |
Gaumensegel: |
Verlangsamt und inkomplett beweglich bei Phonation und Schlucken, aber rasch beim Würgen; selten asymmetrisch. |
Artikulation: |
Gepreßt, stoßweise, rückverlagert. Atem-Stimmdyskoordination. Stimmeinsatz schwer herzustellen und zu halten. „Spastische Dysarthrophonie” ( 6). |
Tab. 5: Orofaziale Pathologie, III. Symptome bei Athetose / Dystonie |
Haltung: |
Große Instabilität. Rasch wechselnder Tonus und ausfahrende Bewegungen im Mund-Gesichtsbereich wie im ganzen Körper, beides beeinflußt sich stark gegenseitig (therapeutisch wichtig). Kompensatorische Selbststabilisation in Extremstellungen, z. B. am Kopf mit Drehung, Neigung und Reklination. |
Mimik: |
Lebhaft bis ungewollt grimassierend, besonders im Augen- und Mundbereich. Ausgeprägte Synkinesien in funktionell gerade nicht beteiligten Regionen. Weites Mundöffnen bei Strecken des Rumpfes bis zur Kiefergelenksubluxation, oft begleitet von Kopfreklination. Evtl persistierende Beißreaktion, oft mit Kopfbeugung. |
Lippen: |
Meist geöffnet, in stabilisierter Körperhaltung auch geschlossen. Synkinesien. Dyskinesien. Empfindlichkeit im Mundbereich häufiger gesteigert als herabgesetzt. Manchmal Speichelfluß bei mangelnder Koordination zwischen Lippen und vorstoßend-bewegungsunruhiger Zunge (16). |
Zunge: |
Ist „überall im Mund”, drängt bei Mundöffnen nach vorn, drückt auch Speise und Speichel vor. Sie bewegt sich auch in Ruhe wurmförmig, sowohl mit kleinen Wellen auf der Oberfläche, als auch mit größerer Einzelwelle: wie übertriebene primäre Zungenbewegungen (3). Unwillkürliche ausfahrende Bewegungen, auch abrupte Rotationen, aber kaum gezielte Seit- und Rotationsbewegungen. Zeitweise Zungenpressen an den Gaumen zur Stabilisation. Luftschlucken. |
Kiefer und Zähne: |
Kieferöffnung bis zur Subluxation, auch seitlich. Oft Vorschub des Unterkiefers. Breit-hoher, besonders von der Hinterzunge ausgeformter Gaumen. Manchmal offener Biß usw. wie bei Spastikern. |
Gaumensegel: |
Seltener gestört, vor allem in der Koordination, beim Schlucken und Sprechen (Nasalität). |
Artikulation: |
Gepreßt, stoßweise, verhaucht, teils nasal: wegen gestörter Koordination von Atmung und Stimme mit Zungen- und Velumbewegung. „Dystone Dysarthropalatophonie” (6). |
Sprechstörungen bei Kindern mit Zerebralparese.
Flache Einatmung und überwiegende Mundatmung bei den meisten CP-Formen tragen, insbesondere bei der Spastizität, zu höchst unökonomischem Stimmeinsatz bei, da die Koordination von Phonation und Atmung überwiegend schwer gestört ist.
Die mangelnde Feineinstellung und Feinbeweglichkeit des nasopharyngealen Sphinkters stören den durchlässigen tönenden Atemstrom und veränderen damit Lautgebung und Lautbildung ungünstig.
Auch die meist zu weite Kieferöffnung wirkt sich negativ auf die Artikulation aus.
Die mangelnde Koordination von Lippen-, Zungen- und Velumbewegungen verändert die Artikulation. Die Sprechweise ist eher monoton und mit plötzlich überschießendem gepressten und kaum herzustellenden Stimmeinsatz durchsetzt. Das Sprechtempo ist weit herabgesetzt.
Besonders Lippenlaute sind schwer zu bilden. Den Mund dosiert zu schließen und ballistisch mit den Lippen und der Zunge zu artikulieren, erfordert höchste feindosierte und stützende Zwerchfellarbeit. Darüberhinaus bleiben alle Laute außer /m/; /n/; und /ng/, sowie deren Assimilationen unverständlich, wenn nicht der nasopharyngeale Sphinkter den Durchgang durch die Nase frei läßt. Die störenden Synergien bringen es mit sich, daß durch jede verstärkte Ausatmungsaktivität und auch jede Stimmproduktion der Kiefer weit geöffnet wird. In schwereren Fällen ist /ka/ darin fast das einzige Lautgebilde, das mit einem Konsonanten gebildet werden kann.
Die Bildung von Plosiven v. a. /k/ können nur unter großer Zeitverzögerung gepresst gebildet werden, jedoch ist die neuromuskuläre Differenzierung zu den stimmhaft gebildeten Morphemen /g/; /d/; und /b/ artikulatorisch kaum möglich. Hier zeigt sich, wie wichtig das Loslassen für den Klangeffekt ist. Ebenso verhält es sich mit den Linguodentalen /m/; /s/; /d/; /t/; /l/;. Ebenso verhält es sich mit den Linguodentalen /z/, /d/, /t/ und /l/ und den Labialen /m/ und /S/. Apikale Zungenspitzenhebung, Kieferstabilität, Lippenformung und dosierte Luftstromlenkung sind koordinativ mitunter schwer beherrschbar. Folgerichtig ist durch die stark eingeschränkte diadochokinetische Bewegung im ganzen Artikulationsorgan die Vokalbildung mitbetroffen. Ansatzrohr und Zunge erschweren dabei die Vokalformung mehr als die ebenfalls gestörte Lippenfunktion.
Wie in der Mimik können auch beim Lautieren die willkürlichen Funktionen mehr betroffen sein als die emotionalen. Hier bietet sich ein wichtiger Ansatzpunkt für die Therapie. Mit Artikulationsspielen wie Prusten, Lallen, evtl. Plappern und Gurgeln können einerseits gezielte orofaziale Bewegungsabläufe angebahnt und wiederholt werden, wie z. B. Mundschluß, dosierte Stimmgebung, Imitation von Lautmalereien. Andererseits werden dadurch die audiokinästhetischen Assoziationen gefördert.
(weiter gehts mit Therapien im Hauptartikel)
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